IMI-Standpunkt 2025/038
Epochale Militarisierung im Zeichen des Völkerrechtsbruchs
Rede auf der Kungebung zum NATO-Gipfel am 24. Juni 2025 auf dem Holzmarkt in Tübingen
von: Christoph Marischka | Veröffentlicht am: 25. Juni 2025
Wir haben es jetzt schon mehrfach gehört: Die Ausgaben für Militär, Geheimdienste und militärisch nutzbare Infrastruktur sollen in Deutschland auf 5% des BIP, der gesamtstaatlichen Wirtschaftsleistung, ansteigen. Grob gesagt werden aktuell etwa 10% dieser Wirtschaftsleistung über Steuern eingezogen und bilden den Bundeshaushalt. 5% des BIP entsprechen also etwa 50% des gesamten Bundeshaushaltes, fast jeder zweite Euro des Bundeshaushalt sollen also künftig ins Militär und eine kriegerisch gedachte „Innere Sicherheit“ fließen, auch wenn das durch Schuldenaufnahmen etwas kaschiert wird. Das ist ein Militarisierungsschub sondergleichen und den lehnen wir entschieden ab!
Diese sagenhafte, epochale Militarisierung – in deren Zuge ja auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht ansteht – wurde im Rahmen der NATO beschlossen und sie wird mit dem Begriff der „Verteidigung“ etikettiert – nahezu unhinterfragt von den deutschen Leitmedien.
Hinterfragen wir aber mal an, was diese NATO – dieses vermeintliche „Verteidigungsbündnis“ – in Wirklichkeit ist. An der Spitze der NATO stehen die USA, die bereits jetzt fast 40% der weltweiten Militärausgaben auf sich vereinen. Die USA sind weltweit der einzige Staat mit einer militärischen Infrastruktur, die es ihr erlaubt, weltweit Kriege mit hoher Intensität zu führen. Die vermeintlichen „Schurkenstaaten“ und systemischen Rivalen – China, Russland, Nordkorea, der Iran und so weiter – sind dazu allesamt nicht in der Lage, haben nicht die nötige globale militärische Infrastruktur. Die USA und mit ihr häufig die NATO selbst (oder ad-hoc-Koalitionen aus NATO-Verbündeten) haben in der Vergangenheit wieder und wieder diese militärische Infrastruktur genutzt, um weltweit völkerrechtswidrige Angriffskriege zu beginnen oder Regime-Changes durchzuführen: 1999 im ehemaligen Jugoslawien, 2003 im Irak, 2011 in Libyen und nun gegen den Iran. Nur die USA haben die militärische Infrastruktur, um in weiten Teilen der Welt seit 2001 immer wieder, klar rechts- und völkerrechtswidrig Drohnenangriffe durchzuführen – Deutschland ist mit Ramstein und dem AfriCom in Stuttgart-Möhringen Teil dieser Infrastruktur. Diese USA unterhalten völkerrechtswidrig Militärbasen im Irak und Syrien. An der Spitze dieser USA steht ein Mann, der vorgestern 14 der größten konventionellen Bomben – ganz klar völkerrechtswidrig – ausgerechnet auf Nuklearanlagen niederregnen ließ. Da gibt es nichts zu rütteln: solchen Anlagen werden im Kriegsvölkerrecht explizit genannt, dass sie nicht angegriffen werden dürfen. In vielen deutschen Zeitungen erschienen trotzdem Kommentare – wie schon bei vergangenen Völkerrechtsbrüchen der NATO und ihrer Verbündeten – dass die Schläge richtig gewesen seien. Zwei Tage nach diesen Angriffen der USA tritt der NATO-Gipfel zusammen und will seine sog. „Verteidigungsausgaben“ auf 5% erhöhen. Liebe Leute: Die einzige richtige Reaktion auf diesen Angriff der USA wäre eigentlich, die USA mit sofortiger Wirkung aus der NATO auszuschließen, oder diese gleich ganz aufzulösen. Eines jedenfalls ist offenkundig: Die sog. „Verteidigungsausgaben“ der NATO – und damit auch der „Wehrdienst“ – dienen ganz offenkundig nicht nur der Verteidigung, sondern auch der Führung von Angriffskriegen unter offenkundiger Verletzung des Völkerrechts. Ich wünschte mir, dass diese eindeutige Tatsache künftig auch von den Leitmedien in der Debatte um die Aufrüstung Deutschlands zur Sprache gebracht wird.
Zugegeben: Die USA und v.a. auch Donald Trump standen unter Zugzwang. Ein Zugzwang, in den sie das Regime Netanjahu ganz bewusst und gezielt gebracht hat, indem es am 13. Juni – keine zwei Wochen vor dem NATO-Gipfel – mit der Operation Rising Lion, ebenfalls mit der Bombardierung iranischer Nuklearanlagen, den Krieg gegen den Iran begann. Auch dieser Angriff war so offenkundig völkerrechtswidrig, dass dies dankenswerter Weise auch in den öffentlich-rechtlichen Medien so benannt wurde – freilich nicht so beharrlich und in Verbindung mit dem Wort „Angriffskrieg“, wie das nun schon seit über drei Jahren im Bezug auf den russischen Einmarsch in die Ukraine der Fall ist. Die führenden deutschen Außenpolitiker, die deutsche Regierung selbst in Person von Bundeskanzler Merz und Außenminister Wadephul begrüßten diese israelischen Angriffe explizit. Merz meinte, Israel mache für uns die „Drecksarbeit“, Wadephul verkündete: „Der Iran muss wissen, die Welt wird nicht akzeptieren, dass er atomar bewaffnet ist“. Das ist mindestens in zweierlei Hinsicht infam: einerseits, dass es sich ein deutscher Außenminister herausnimmt, vermeintlich für die ganze Welt zu sprechen und andererseits, dass er hier den erratischen US-Präsidenten ziemlich offen zu diesem gefährlichen Völkerrechtsbruch ermuntert hat. Eigentlich gehörten Merz und Wadephul hierfür vor Gericht gestellt.
Bemerkenswerte Situation
Das schafft eigentlich eine bemerkenswerte Situation, einen bezeichnenden Kontext für diesen NATO-Gipfel, dass führende NATO-Politiker:innen Völkerrechtsbrüche feiern – die von den Medien auch offen so benannt werden – und zugleich im NATO-Rahmen die vermeintlichen „Verteidigungsausgaben“ auf ein zuvor nicht dagewesenes Niveau anheben. Ich finde eigentlich, dass genau diese Situation noch viel, viel mehr Widerstand hervorrufen sollte!
Ich möchte hier noch etwas sagen, was wahrscheinlich allen hier klar ist, aber im Moment arg unter den Tisch fällt: Es ist ganz klar, dass die israelischen Angriffe nicht unter das völkerrechtliche Recht auf Selbstverteidigung fallen. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Israel eine atomare Bewaffnung des Iran fürchtet und ich denke, wir alle hier – zumindest fast alle – lehnen jede einzelne Atomwaffe ab und auch jeden neuen Staat, der in den Besitz solcher Waffen kommt. Wir kämpfen seit Jahren gegen Atomwaffen, die nukleare Teilhabe Deutschlands und für den Atomwaffenverbotsvertrag. Es wird aktuell behauptet, das iranische Regime wolle Israel auslöschen und zumindest suggeriert, dass das iranische Regime sofort eine Atombombe auf Israel werfen würde, wenn es eine hätte. Zumindest letzteres ist Blödsinn. Denn Israel verfügt selbst über genug Atomwaffen und würde diese in diesem Fall zweifellos auch einsetzen. Das würde das iranische Regime, das ganze Land als solches, nicht überstehen. Und so irrational ist das iranische Regime nicht. Das ist eigentlich relativ offensichtlich, muss aber so mal gesagt werden, weil es ja viele und prominente Äußerungen gibt, die anderes behaupten oder suggerieren.
Überhaupt kommt mir dieses iranische Regime aktuell gar nicht so irrational vor, wie es hierzulande gerne gezeichnet wird. Die Vergeltungsangriffe auf die US-Basis in Katar erfolgten mit Vorwarnung und angeblich ohne Opfer. Es gehört zum ganzen Drama, dass auch die Gegenangriffe des Iran auf Israel auf ihre Art rational waren. Kein Staat kann solche Angriffe einfach hinnehmen und es war Netanjahu ganz sicher klar, dass nach dem Beginn von Rising Lion viele Israelis die Nächte in Schutzbunkern verbringen – und auch getötet würden. Trotz des Leides, das die iranischen Gegenangriffe gerade auch in der israelischen Zivilbevölkerung hervorrufen (auch wenn es vermutlich nicht vergleichbar ist mit der Panik in Teheran und anderen iranischen Städten), wirken diese Gegenangriffe doch eher hilflos. Das passt auch nicht so ganz zum Bild eines irrationalen iranischen Regimes, das sich seit Jahren auf die Auslöschung Israels vorbereitet.
Doppelte Standards
Anders als in der Ukraine haben westliche Politiker – welche den Angriff nicht verurteilt haben – die angegriffene und offenkundig unterlegene Seite unverzüglich zu Verhandlungen aufgerufen und dazu, sich den israelischen Forderungen zu beugen. Was haben wir uns als „Lumpenpazifisten“ beschimpfen lassen müssen, als wir Verhandlungen der Ukraine gefordert haben. Anders als im Falle der Ukraine ist hier jedoch selten von „Siegfrieden“ die Rede oder davon, dass der Aggressor für seine Aggression nicht belohnt werden dürfe. Anders als im Falle der Ukraine wird der angreifende Staat nicht sanktioniert, sondern weiter mit Waffen beliefert. Ich fordere dies nicht, ich fordere nur dazu auf, sich vorzustellen, dass eine deutsche Außenministerin lauthals verkündet, man müsse nun Israel ruinieren, so wie das Baerbock in Bezug auf Russland tat. Was ich aber fordere, ist der unverzüglich Stopp aller Rüstungsexporte nach Israel und aller Forschungkooperationen in militärisch relevanten Bereichen, insbesondere in den Bereichen Drohnen und KI.
Die doppelten Standards der Bundesregierung im Umgang mit Völkerrechtsbrüchen offenbart nicht nur die wahren Triebfedern der deutschen Außenpolitik im Ukraine-Krieg. Sie zeigen auch, dass unsere Forderung nach dem Stopp aller Rüstungsexporte stets richtig war. Mit dem 5%-Ziel und dem Boom der westlichen Rüstungsindustrien rückt das allerdings in noch weitere Ferne. Die doppelten Standards – oder in manchen Fällen eigentlich komplett fehlenden Standards – der deutschen Regierungen im Hinblick auf das Völkerrecht haben auch zur extrem explosiven Lage im sog. „Nahen Osten“ beigetragen. Jahrelang hat Deutschland die israelischen Völkerrechtsbrüche wie die Besatzungen ignoriert oder offen unterstützt – Kritik an diesen gar kriminalisiert und niederknüppeln lassen. In den letzten Jahren wurden klare Rechtsbrüche in der israelischen Kriegführung, der großflächige Einsatz von KI bei der Zielfindung, Folter von medizinischem Personal, Angriffe auf Journalist*innen, Zivilistinnen und geschützte Einrichtungen, der Schutz von Siedlergewalt und vieles mehr ignoriert und kaschiert. Über Jahre hat das offizielle Deutschland geschwiegen, wenn Israel – klar völkerrechtswidrig – Ziele in seinen Nachbarstaaten, Syrien und dem Libanon, angegriffen hat oder eben die iranische Botschaft in Damaskus. Wären hier – oder im Falle dessen, was ich mittlerweile recht klar für einen Völkermord in Gaza halte – früher und entschiedenere Reaktionen durch Deutschland und seine NATO-Verbündeten erfolgt, hätte sich Netanjahu vielleicht nicht zum jüngsten, offenbar lange vorbereiteten und folgenreichen Schritt entschieden.
Die Waffen müssen schweigen
Hoffen wir, dass der aktuelle Waffenstillstand möglichst hält oder bald ein neuer ausgehandelt wird. Hoffen wir, dass die Waffen zwischen Iran und Israel bald schweigen. Hoffen wir, dass die Menschen in Israel wieder aus ihren Bunkern können und auch die Menschen im Iran wieder ohne ständige Angst vor Luftangriffen und Mega-Bomben auf Atomanlagen und deren Folgen leben können. Manchen von uns mag es ungerecht vorkommen, wenn jetzt ein Waffenstillstand erfolgt, der weitestgehend den israelischen Bedingungen entspricht – im Bezug auf die Ukraine würde andere vielleicht von einem „Siegfrieden“ sprechen. Das ist ein dummes Wort. Wir müssen uns eins immer vor Augen halten – auch wenn es eine andere Propaganda gibt: Kriege bringen keine Gerechtigkeit. An den „gerechten Krieg“ glauben nur religiöse Fanatiker – und offenbar die NATO und ihre Freunde in Bezug auf die Ukraine. Ganz klar ist aber auch, auch wenn die Waffen zwischen Israel und dem Iran hoffentlich bald schweigen: Das Morden in Gaza und die israelischen Angriffe auf die Nachbarstaaten müssen beendet werden, die deutsche Unterstützung für das völkerrechtswidrige, expansionistische und in Teilen auch religiös motivierte Treiben der Netanjahu-Regierung muss eingestellt werden, im UN-Rahmen wären effektive Sanktionen zu erörtern. Und wir müssen uns mit ganzer Kraft der Aufrüstung der NATO – insbesondere Deutschlands – entgegenstellen und der ganzen damit angeheizten, weltweiten Aufrüstungsdynamik. Ein guter Beitrag dazu wären zum Beispiel auch friedliche Revolutionen und ein Sturz der korrupten Regime im Iran und Israel.